Bei den „Seltenen“ ist selten etwas normal: Allein schon den langen Weg bis zur richtigen Diagnose empfinden viele Betroffene und ihre Angehörigen als Odyssee. In vielen Fällen dauert es zehn Jahre und länger, bis der korrekte Befund vorliegt. Der angemessenen Behandlung der Erkrankung gehen häufig jahrelange Arztbesuche, Untersuchungen und leider oft auch falsche Therapien voraus. Über einen langen Zeitraum besteht keine Gewissheit über das, was ist, und das, was kommen wird.
Oftmals ist es der Hartnäckigkeit der Angehörigen zu verdanken, wenn die Erkrankung irgendwann dann doch feststeht. Auf ihren Schultern lastet viel. Vieles ist System-immanent, und das auf vielen Ebenen: medizinisch ebenso wie politisch, strukturell und gesamtgesellschaftlich. Vieles hat sich aber auch schon getan – und das macht Mut.
Fortschritte in der Forschung
Da ist zum einen der generelle rasante Fortschritt in der Arzneimittelentwicklung. Insbesondere die Antikörper- und Gentherapien sowie die neue mRNA-Technologie rücken maßgeschneiderte Medikamente in zunehmend greifbare Nähe – und eröffnen eine enorme Perspektive für die Therapie von seltenen Erkrankungen. Zum anderen schaffen die für die seltenen Erkrankungen seit einiger Zeit geltenden eigenen Rahmenbedingungen mit u. a. beschleunigten Zulassungsverfahren die notwendigen Anreize für die Entwicklung weiterer Medikamente und Therapien.
Verbesserte Versorgungsstrukturen für Menschen mit seltenen Erkrankungen
Gab es noch vor zehn Jahren nur wenige medizinische Zentren für seltene Erkrankungen, haben inzwischen viele Universitätskliniken spezielle Zentren, die sich mit der Diagnostik und Therapie von seltenen Erkrankungen beschäftigen. Zurzeit ist ihre Finanzierung zwar noch schwierig. Doch hier gibt es erste Ansätze einer Strukturfinanzierung – auch für den Aufbau weiterer Zentren und Unterstützungsangebote. Angesichts der Vielzahl der seltenen Erkrankungen reichen sie aber längst noch nicht aus.
Zunehmende Vernetzung
Die „integrierte Versorgung“ ist gerade bei seltenen Erkrankungen extrem wichtig. Mit dem von der NAMSE angestoßenen dreistufigen Zentrenmodell (s. Informationen unterhalb dieses Artikels) wurde eine gute Basis für die engere Zusammenarbeit von Hausärzten, Zentren für seltene Erkrankungen, niedergelassenen spezialisierten Fachärzten und anderen the-rapeutischen Einrichtungen geschaffen. Ein wunder Punkt dabei ist leider die immer noch unzureichende Digitalisierung unseres Gesundheitssystems, die die Versorgung von Patienten mit schweren oder seltenen Erkrankungen über die Sektorengrenzen hinweg stark behindert. Vereinzelte internationale Initiativen wie das European Reference Network For Neurological Diseases verbessern die Kooperation zunehmend auch auf Europäischem Level.
Seltene Erkrankungen geben Impulse für die Behandlung häufig auftretender Krankheitsbilder
Seltene Erkrankungen sind sehr oft genetisch bedingt und äußern sich als Störungen von Stoffwechselwegen. Das detaillierte Verständnis dafür eröffnet inzwischen immer mehr therapeutische Ansätze auch für häufig auftretende Erkrankungen – insbesondere in Richtung personalisierte Medizin. Perspektivisch kann es also sein, dass sich „ehemals“ häufig auftretende Erkrankungen zu mehreren Untergruppen selten auftretender Krankheitsbilder entwickeln. Und da wird man dann stark vom Erfahrungsvorsprung der seltenen Erkrankungen profitieren.
Mehr Awareness! Mehr Unterstützung!
Im Vergleich zur Situation von vor zehn Jahren sind die seltenen Erkrankungen etwas mehr in der Ärzteschaft und in der allgemeinen Öffentlichkeit präsent. So griffen zum Beispiel Serien wie Dr. House oder Grey’s Anatomy diese Thematik inzwischen publikumswirksam auf. Trotzdem sind hier noch viele Schritte zu gehen. Das fängt an bei der stärkeren Gewichtung der seltenen Erkrankungen im Medizinstudium und reicht bis hin zu einem viel stärkeren gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein für die Herausforderungen der Menschen mit seltenen Erkrankungen und ihrer Angehörigen.
Im Schulterschluss in die Zukunft
Neben Aufklärung und Information gehören dazu auch die Entwicklung, Finanzierung und Bereitstellung von Unterstützungsangeboten für die Angehörigen, deren Engagement so wertvoll für ein besseres Leben mit einer seltenen Erkrankung ist. Daran müssen wir alle arbeiten – und zwar im Schulterschluss: Forschung, Medizin, Patienten- und Selbsthilfeorganisationen, Vertreter von Angehörigen, Politik und Gesellschaft.
gez. Prof. Dr. Oliver Semler und Dr. Andreas Jerrentrupp
Wissenschaftlicher Beirat Angehörigen-Report Seltene Erkrankungen und ihre Folgen
Das im Rahmen des Nationalen Aktionsplans für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE)1 initiierte dreistufige Zentrenmodell unterscheidet A-, B- und C-Zentren:
A-ZENTREN
Referenzzentren mit Lotsen funktion, die Menschen mit gesicherter seltener Erkrankung in geeignete Versorgungsstrukturen überführen. Auch Verdachtsfälle mit unklarer Diagnose aber konkreten Hinweisen auf eine seltene Erkrankung können hier abgeklärt werden.
B-ZENTREN
Fachzentren, die über ein interdisziplinäres Versorgungsangebot für bestimmte seltene Erkrankungen und Erkrankungsgruppen verfügen.
C-ZENTREN
Kooperationszentren für spezifische seltene Erkrankungen oder Krankheitsgruppen, die die ambulante Versorgung sicherstellen – z. B. niedergelassene Schwerpunktpraxen, Gemeinschaftspraxen, Medizinische Versorgungszentren (MVZ) oder Krankenhäuser.
Eine Übersicht über sämtliche Zentren für seltene Erkrankungen gibt es unter orpha.net.
1https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/N/NAMSE/Nationaler_Aktionsplan_fuer_Menschen_mit_Seltenen_Erkrankungen__Handlungsfelder__Empfehlungen_und_Massnahmenvorschlaege.pdf. Letzter Zugriff am 29.11.22