Dr. Axel Schramm arbeitete nach seinem Studium der Humanmedizin zunächst als Assistenzarzt am Universitätsklinikum Erlangen. Bevor er vor einigen Jahren in die NeuroPraxis im mittelfränkischen Fürth wechselte, war er langjähriger Oberarzt an der Universitätsklinik Erlangen und Leiter der Klinischen Neurophysiologie sowie diverser Spezialambulanzen. In seiner täglichen Arbeit sind ihm Menschlichkeit, Zuwendung und Empathie besonders wichtig. Seinen Patienten möchte er die bestmögliche Diagnostik und Therapie zukommen lassen. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten ist Dr. Axel Schramm mehrfach ausgezeichnet worden.
Christoph Hofstetter begann seine berufliche Karriere als staatlich anerkannter Physiotherapeut. Später schloss er seinen Bachelor mit dem Schwerpunkt Neurorehabilitation und Neurowissenschaft ab. Heute ist er vielseitig unterwegs: als Autor, Lehrbeauftragter, Gastdozent und Inhaber des interdisziplinären Therapiezentrums im nordrhein-westfälischen Warburg. Und er hat die webbasierte, interaktive Rehaplattform „Caspar“ mit entwickelt. Sie soll Patienten motivieren, ihre Übungen auch zuhause durchzuführen. Per Video oder Chat bekommen sie dort online Feedback vom Therapeuten.
Wie können Sie als Physiotherapeut und Neurologe Angehörige in die Therapie miteinbeziehen?
Hofstetter:
Es beginnt bei der Vorgeschichte der jeweiligen Patienten, bei den Gewohnheiten: Hier können Angehörige bereits viel beitragen und bei der ersten Erfassung eine Menge Informationen liefern. Zudem können die Angehörigen die Ziele der Therapie sehr gut mit definieren. Wo gibt es Dissonanzen und wo gibt es Übereinstimmungen? Mit beiden zusammen können Ziele definiert werden, die auch zu schaffen sind.
Auch die Anpassung der häuslichen Umgebung – also die Vorbereitung auf eine optimale Pflege – kann mit den Angehörigen gemeinsam geplant werden. Wo müssen Anpassungen gemacht werden? Die Angehörigen kennen die Wohnsituation am besten. Dieses Gespräch ist demnach sehr wichtig für mich als Therapeut.
Dr. Schramm:
Ich möchte sogar noch einen Schritt zurückgehen. Bei Schlaganfallpatienten ist es oft so, dass sie durch eine Sprachstörung gar nicht ausreichend mit mir kommunizieren können. Wir brauchen also den Austausch mit den Angehörigen, um an die relevanten Informationen zu kommen. Sie können mir erzählen, welche Probleme und Bedürfnisse es gibt – gerade auch im Alltag. Zudem kennen und begleiten Angehörige die Patienten bereits viel länger und wissen meist sehr gut Bescheid. Später können Angehörige dann meist besser artikulieren, was gebraucht wird und an welcher Stelle der Arzt ganz konkret helfen kann.
Mit welchen Fragen kommen Angehörige auf Sie beide zu? Was beschäftigt die Angehörigen am meisten?
Dr. Schramm:
Für die Angehörigen ist es genauso wichtig wie für die Patienten zu erfahren, wie man neurologische Ausfälle und auch Schmerzen besser in den Griff bekommen kann. Viele Angehörige sind zusätzlich noch für die Versorgung und Pflege zuständig. Dadurch haben sie über den Krankheitsverlauf und die Behandlung hinaus noch weitere Fragen zur Organisation des Alltags, welche Hilfsmittel benötigt werden, wie das häusliche Umfeld angepasst werden muss usw. Oft sind die pflegenden Angehörigen mit der Situation überfordert und haben Ängste. Auch das muss im weiteren Verlauf der Behandlung thematisiert und berücksichtigt werden. Leider sind die zeitlichen Ressourcen für Ärzte jedoch sehr beschränkt.
Hofstetter:
Zu mir kommen die Angehörigen meistens mit sehr konkreten Fragen:
Wie kann ich meinem erkrankten Familienmitglied beim Aufstehen, beim Hinlegen, Hinsetzen, ins Bett bringen usw. helfen? Für diese Fragen nutze ich meistens zwei Sitzungen, in denen ich den Angehörigen zeige, wie man Patienten nach einem Schlaganfall gut lagern und im Alltag unterstützen kann, beispielsweise sich aus dem Rollstuhl heraus auf einen normalen Stuhl setzen. Auch beim Thema Umgang mit Schmerzen gibt es viele Fragen, die ich mit den Patienten und Angehörigen zusammen bespreche.
Dr. Schramm:
Bei der Begleitung der Patienten-Angehörigen-Teams über mehrere Jahre, sieht man, wie sie funktionieren. Es ist schön zu sehen, dass Angehörige zu zuverlässigen Partnern werden. Es ist eine große Aufgabe, diesen Prozess auch als Fachpersonal dahingehend zu unterstützen, damit das Teambuilding funktionieren kann und beide Parteien auch langfristig gut mit der Erkrankung umgehen können.
Hofstetter:
Nach einiger Zeit kommen auch noch andere Fragen zur weiteren Lebensplanung auf, zum Beispiel, ob gemeinsame Urlaube wieder möglich werden können. Da spricht überhaupt nichts dagegen, wenn die medizinische Versorgung gewährleistet ist. Ich finde das toll, wenn Menschen sich trotz Erkrankungen oder Einschränkungen ihre Wünsche erfüllen und somit trotzdem eine gute Lebensqualität haben können.
Welche Aufgaben oder Rollen übernehmen Angehörige in der Regel?
Dr. Schramm:
Die meisten Angehörigen übernehmen wahnsinnig viele Aufgaben. Aber es ist aus meiner Sicht wichtig, den Druck herauszunehmen und die Verantwortung teilweise und auch gezielt abzugeben. Die Angehörigen sind nicht verantwortlich für den Therapieerfolg, sie sollten für die Erkrankten eher Begleiter und Motivatoren sein. Die Verantwortung sollte bei Ärzten, Therapeuten und den Patienten selbst liegen. Das ganze Team muss funktionieren.
Hofstetter:
Die Angehörigen helfen in den Alltagssituationen sehr viel und das geht auch nicht anders. Aber es muss klare Abgrenzungen geben: Patienten bekommen Übungen von Therapeuten und sollten nicht von den Angehörigen unter Druck gesetzt oder überwacht werden. Angehörige sind nicht Trainer und Co-Therapeuten – sie sind Begleiter und Partner und das sollten sie auch bleiben. Patienten sollten nicht bevormundet werden – das wirkt eher demotivierend. Deshalb ist es mir wichtig, Angehörige sensibel anzuleiten und da auch von meiner Seite den Druck herauszunehmen. Sie haben nicht die Pflicht, mich als Therapeuten zu unterstützen.
Wo finden Angehörige Tipps und Anregungen, um die Therapie zu unterstützen oder sogar Unterstützungsangebote?
Hofstetter:
Was ich gerne anbiete: Ich filme die Übungen, die ich Patienten zeige, mit dem Smartphone der Patienten oder Angehörigen mit, dann können sich alle die Übungen zu Hause in Ruhe zusammen anschauen. Dabei sieht man auch sehr gut die Fortschritte, die Patienten im Verlauf der Behandlung machen.
Dr. Schramm:
Ich möchte an dieser Stelle Angehörigen raten, jede Hilfe, die sie bekommen können, auch zu nutzen. Ferner nicht alles an den Arzt zu adressieren, sondern spezifische Fragestellungen auch mit Therapeuten, mit Krankenkassen, mit Selbsthilfegruppen, gegebenenfalls mit dem Pflegedienst usw. zu klären und sich bei der Hilfesuche breit aufzustellen. Mit Unterstützung von verschiedenen Seiten kann auch Frustration vermieden werden, wenn das Arztgespräch zu kurz ist und nicht alle Fragen und Probleme sofort gelöst werden können.
Hofstetter:
Es gibt eine bundesweite Selbsthilfegruppe für Aphasiepatienten und eine Selbsthilfegruppe für Schlaganfallpatienten und Angehörige von der Deutschen Schlaganfall Hilfe. Die sind meistens auch regional organisiert. Angehörige könnten auch in der behandelnden Praxis nachfragen, ob Kontakt zu anderen betroffenen Familien hergestellt werden kann. Meistens finden Therapeuten das gut und unterstützen diesen Austausch. Zudem kann der Arzt, zusätzlich zur Therapie in der Praxis, ein Rezept für Hausbesuche ausstellen, damit Therapeuten Patienten zu Hause besuchen und die Hilfsmittel dort besprechen können, die gebraucht werden oder wie sie am besten genutzt werden können. Das ist auch meistens eine große Hilfe für Angehörige und Patienten. Manche Krankenkassen bieten hier sogar den Service Ergotherapeuten zu schicken – die besprechen dann gemeinsam mit Betroffenen und pflegenden Angehörigen was gebraucht wird. Es gibt da gute Möglichkeiten, wo man sich Hilfe holen kann.
Wie kann man als Angehöriger dazu beitragen, dass nach der Reha eine bestmögliche integrierte Versorgung zwischen Hausarzt, Neurologe und Physiotherapeut im Sinne des Patienten erreicht werden kann?
Hofstetter:
Ein Angehöriger kann nie ein Therapiemanager sein. Dafür ist er nicht ausgebildet.
Angehörige können aber ein wichtiger emotionaler Beistand und Rückhalt für Menschen mit einem SchlaganfalI sein. Meist wissen sie, was dem an Schlaganfall Erkrankten guttut. Dies können sie gegenüber Ärzten und Therapeuten äußern. Aus meiner Sicht ist der Hausarzt der Kommunikator und Mediator zwischen den Disziplinen. Er stellt auch die meisten Rezepte aus. Deshalb ist aus meiner Sicht die Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Therapeut am wichtigsten. Wenn Therapeuten gute Neurologen kennen, gehen sie in der Regel von sich aus auf Patienten zu und bieten an, eine Behandlung mit Botulinumtoxin (bei Experten) zu machen. Ich versuche dies, soweit wie möglich, in meiner täglichen Arbeit immer zu berücksichtigen. Daher ist für mich der Dialog und Austausch mit Neurologen und Experten für Spastik und Botulinumtoxin, wie Herrn Dr. Schramm, so wichtig.
Dr. Schramm:
Ich sehe mich nur als kleinen Baustein in der gesamten Behandlung. Wir Neurologen sind meist gar nicht so nah dran am Patienten wie Therapeuten oder Hausärzte. Manche Bedürfnisse, Fragen und Probleme sind an diesen Stellen möglicherweise besser aufgehoben als bei Neurologen. Gerade, wenn es um Fragen nach Unterstützung für Angehörige geht. Für einen besseren Informationsfluss von mir zum Therapeuten oder Hausarzt gebe ich den Angehörigen gerne Hinweise mit.
Der Schlaganfall eines nahestehenden Menschen kann für Angehörige eine große Belastung sein. Oft müssen sie ihr Leben komplett neu sortieren. Was bedeutet das für Angehörige?
Dr. Schramm:
Ich glaube, es gibt da so viele spannende Themen, die sich während der Therapie und im Zusammenleben nach dem Schlaganfall zwischen Patienten und Angehörigen entwickeln. Wie kommuniziert und lebt man miteinander? Wie wollen wir unser weiteres Leben gestalten? Diesen Prozess zu begleiten, ist sehr spannend. Hier sehen wir auch deutlich die Versorgungslücke. Es ist nicht offiziell definiert, wie dieses Team betreut werden und Angehörige in die Therapie miteinbezogen werden sollen.
Wie können pflegende Angehörige eine Überforderung und Überlastung vermeiden? Und wo finden sie Unterstützung?
Hofstetter:
Wichtig finde ich in dem Zusammenhang, dass man sich Gedanken darüber macht, was passiert, wenn pflegende Angehörige ausfallen, weil sie zum Beispiel selbst krank werden oder sich verletzen. Oft entstehen große Ängste und Unsicherheiten, weil niemand so recht weiß, wie er mit solch einer Situation umgehen muss und ob man vielleicht sogar wohnlich getrennt werden muss. Da kann ich nur empfehlen: Holen Sie sich Hilfe, z. B. bei einer Sozialberatung vor Ort. Da gibt es Hilfe durch Sozialarbeiter oder die Möglichkeit der Inanspruchnahme eines ambulanten Pflegedienstes, um solche Zeiten zu überstehen. Auch Angebote wie Tagespflege können eine sehr gute Lösung sein. Die sind eine sehr wichtige Stütze für die Angehörigen, um mal durchzuatmen.
Dr. Schramm:
Außerdem finde ich es eine gute Idee, sich schon im Vorfeld einen „Notfallplan“ zurecht zu legen, in dem man überlegt, was z.B. passieren soll, wenn der pflegende Angehörige mal selbst ausfällt. Das beruhigt und gibt Angehörigen ein gutes Gefühl.
Und ja, Angehörige sollten sich auch Pausen organisieren. Sie können zum Beispiel mal alleine in den Urlaub fahren, während andere Familienmitglieder die Verantwortung eine Zeitlang übernehmen. Sie können auch institutionelle Angebote wie Tagespflege oder Pflegedienst nutzen – aber auch auf intrafamiliäre oder Hilfe aus dem Freundeskreis zurückgreifen. Das ist sehr wichtig, um das Team langfristig am Laufen zu halten.
Hofstetter:
Es gibt in Deutschland die Besonderheit, dass es nicht nur eine neurologische, sondern auch eine geriatrische Reha gibt. Die zwei Ziele der geriatrischen Reha sind der Erhalt der Selbständigkeit und die Reduzierung der Pflegebedürftigkeit. Diese Einrichtungen gibt es auch auf dem Land und während so eines Aufenthaltes können Angehörige mal durchatmen.