Ein Schlaganfall trifft in Deutschland jährlich mehr als 270.000 Menschen – und mindestens genauso viele Angehörige. Fast die Hälfte der Patienten und Patientinnen braucht nach dem Krankenhausaufenthalt Unterstützung und Pflege, nicht zuletzt durch Familienmitglieder.
Doch unterstützende und pflegende Angehörige fallen in Deutschland durchs Raster: Im Gegensatz zu Pflegekräften oder Ärzten haben sie im Pflege- und Gesundheitssystem keine Lobby, leisten aber zum Teil Übermenschliches. Die Initiative Räume zum Reden wollte wissen, wie die Realität von Menschen aussieht, die einen Angehörigen mit einer schweren Erkrankung, wie zum Beispiel einem Schlaganfall, unterstützen oder pflegen, und hat eine bundesweite Umfrage gestartet. Die Ergebnisse sind beunruhigend. Wie belastet Angehörige tatsächlich sind und wo es an Unterstützung im Gesundheitssystem fehlt, zeigt der Angehörigen-Report Schlaganfall von Ipsen.
Pflegende Angehörige –
Belastungen für Körper und Seele
Angehörige von Schwererkrankten, wie zum Beispiel Schlaganfall-Patienten und -Patientinnen, sind einer Vielzahl unterschiedlicher Herausforderungen ausgesetzt. Dazu gehören nicht nur körperliche, seelische und finanzielle Belastungen, sondern auch Existenzsorgen und Einschränkungen des Soziallebens. Nicht selten treten mehrere Belastungsformen gleichzeitig auf.
So berichten 47,7 Prozent der pflegenden Angehörigen von Herausforderungen im Familienleben und 37,2 Prozent von eingeschränktem Sozialleben.
Wenn die Seele leidet:
Daten zu psychischen
Belastungen
Mehr als die Hälfte (54,4 Prozent) aller Angehörigen, die Schlaganfall-Patienten und -Patientinnen unterstützen oder pflegen, leiden unter psychischen Belastungen. Einige Studien, die bei pflegenden Angehörigen erhoben wurden, belegen, dass die psychische Belastung teilweise sogar größer ist als die der Patienten und Patientinnen selbst.
Bereits existierende Interventionsansätze für Betroffene und Angehörige – unter anderem nachzulesen im Pflegestärkungsgesetz – legen den Schwerpunkt auf z. B. Psychoedukation, Problemlöseansätze und Unterstützung in Stressmanagement und Selbstfürsorgetechniken.
Pflegende Angehörige würden gerne öfter mit anderen Betroffenen sprechen
Über 40 Prozent (42,6) der befragten Angehörigen von Schlaganfall-Patienten und -Patientinnen wünschen sich mehr Austausch mit anderen Betroffenen. Dieser Wunsch nach mehr Austausch mit anderen pflegenden Angehörigen bestätigt den Anlass der Initiative Räume zum Reden. Ipsen hat nach der Umfrage ein Austauschformat für alle Beteiligten geschaffen. Einen Ort für Angehörige, an dem ihnen zugehört wird und sie sich mit anderen Betroffenen und Experten austauschen, aber auch Unterstützungsmöglichkeiten diskutieren können.
Mehr als die Hälfte aller pflegenden Angehörigen wünscht sich mehr externe Unterstützung für sich persönlich
57,6 Prozent der Angehörigen von Schwererkrankten wünscht sich mehr externe persönliche Unterstützung. Dabei geht es aber nicht nur um Hilfe bei der Pflege oder im Haushalt, sondern auch um einen Informationsbedarf: Die Ipsen-Umfrage hat daher untersucht, wo und wie sich Angehörige von schwer erkrankten Menschen über Hilfsangebote informieren oder medizinische Fragen klären. Die Ergebnisse geben uns Hinweise, welche Art von Informationen, edukativen Programmen und weiteren Unterstützungsoptionen benötigt werden.
Arzt und Internet sind die Hauptinformationsquellen für Angehörige von Schlaganfall-Patienten
Jeweils mehr als die Hälfte der Angehörigen von Schlaganfall-Patienten informiert sich im Internet (52,8 Prozent) und über den Arzt oder die Ärztin (52,9 Prozent). Bedenkt man, dass der Patient/die Patientin im Mittelpunkt der ärztlichen Tätigkeit steht, erhält der Angehörige hauptsächlich Informationen über Erkrankung und Therapieplan.
Informationen, die die Unsicherheiten der pflegenden Angehörigen auflösen und ihre Fragen nach Unterstützung und rechtlichen sowie finanziellen Optionen klären, werden allerdings selten weitergegeben. Der Informationsbedarf ist enorm. Und eine gute Vorbereitung kann körperliche und psychische Belastungen verringern und die Lebensqualität von pflegenden Angehörigen verbessern.
Doch mehr als 50 Prozent der befragten Angehörigen wissen nicht oder zumindest nur in Teilen, an welche Behörde oder Einrichtung sie sich bei organisatorischen Fragen wenden müssen. Die Ergebnisse liefern daher valide Hinweise, wo welche Art von Informationen oder Hilfsangeboten benötigt werden.
30 Stunden und mehr:
Angehörige von Schlaganfall-
Patienten sind der größte
und kostengünstigste
Pflegedienst
Fast die Hälfte (48,8 Prozent) der pflegenden Angehörigen investieren 20 oder mehr Stunden pro Woche für Pflege, Betreuung und Organisation; 31,7 Prozent sogar 30 Stunden und mehr.
Weitere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die Arbeitsforscherin Dr. Tine Haubner, Universität Jena, stellte fest, dass die Angehörigen den größten und zugleich kostengünstigsten Pflegedienst stellten. Von den insgesamt rund 3,4 Millionen Pflegebedürftigen würden drei Viertel ausschließlich oder unter anderem von Angehörigen versorgt (Infratest Sozialforschung München. Hilfe- und Pflegebedürftige in Privathaushalten in Deutschland 2002).
Räume zum Reden:
Angehörigen-Report
Schlaganfall
Diese und weitere Ergebnisse mit ersten Analyseansätzen finden Sie im Angehörigen-Report mit dem Fokusthema „Schlaganfall“ von Ipsen.
Wissenschaftliche Partner
Als Neurowissenschaftler konnten wir die Experten Prof. Dr. Jörg Wissel, Vivantes Klinikum Spandau, Neurologische Rehabilitation und physikalische Therapie, und Praxis für Neurologie und Psychosomatik am Wittenbergplatz in Berlin, sowie Prof. Dr. Tobias Bäumer, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck, für das Projekt gewinnen.
Die Experten haben bei der Entwicklung der Umfrage mitgewirkt und verfügen über umfangreiche Erfahrungen in der Behandlungskette von Menschen nach Schlaganfall im Akutbereich, der Rehabilitation und der ambulanten Nachbehandlung sowie in der Kommunikation mit deren Angehörigen.
„Pflegenden Angehörigen früh zeigen, wie sie die Herausforderungen des täglichen, sozialen Lebens mit einem Schlaganfall-Patienten besser bewältigen können.“
Lesen Sie hier ein Interview mit Prof. Dr. med. Jörg Wissel.
Methode und Stichprobe
Gemeinsam mit Prof. Dr. Jörg Wissel und Prof. Dr. Tobias Bäumer haben wir einen Online-Fragenkatalog für pflegende Angehörige mit Multiple-Choice-Fragen entwickelt. Die Befragung organisierte das digitale Markt- und Meinungsforschungs-Unternehmen Civey. Civey kann auf das größte Open-Access-Panel in Deutschland zurückgreifen, das aktuell rund eine Million verifizierte und monatlich aktive Nutzerinnen und Nutzer umfasst.
Insgesamt wurden 25 Fragen beantwortet. Die Umfrage wurde geclustert in einen allgemeinen Teil mit Fragen für Angehörige von schwer oder chronisch Kranken, einen zweiten Teil mit Fragen speziell für Angehörige von Menschen nach einem Schlaganfall sowie einen Teil für Angehörige, die regelmäßig Pflegeaufgaben übernehmen.
Alle drei Umfragen sind für die Merkmale Geschlecht, Region und Alter als repräsentativ zu bewerten. Die Stichprobe, die für die Ergebnisauswertung bei den ersten beiden Umfragen genutzt wurde, lag jeweils bei 2.500 Befragten ab 18 Jahren. Die Umfrage für pflegende Angehörige wurde bei einer Stichprobe von 800 Befragten ausgewertet.